Liebe Unbekannte,
wir trafen uns auf der Toilette eines Hamburger Restaurants. Du gingst hinein, ich gerade heraus. Nachdem ich dir die Tür aufgehalten hatte, damit du zuerst hinein gehen konntest, warf ich dir noch ein freundliches „Hallo!“ hinter her. Von dir allerdings kam: Nichts. Kein „Hallo!“ und auch kein „Danke!“ Mein erster Eindruck: Hm, unsympathisch, aber bei weitem nichts Außergewöhnliches. You win some, you lose some.
Also kehre ich zu meinem Tisch zurück, wo meine Begleitung auf mich mit einem guten Gespräch und einem frisch gefüllten Glas Wein wartet. Natürlich sitzt du mir schräg gegenüber. Mit deiner Begleitung. Und deinem Glas Wein.
Der Abend schreitet voran, das Essen kommt und wird wieder abgeräumt. Unsere Augen treffen sich ab und an und ich spüre den Scannerblick: Dieses Durchleuchten und Abchecken von Frauen unter Frauen, einmal von Kopf bis Fuß. Ich spiele da nicht mit. Ich habe das nie verstanden.
Immer mehr Stühle leeren sich. Er wird spät und die Kellnerin würde gerne nach Hause gehen. Es sind vielleicht noch vier Tische im Laden besetzt. Also macht Ihr euch auf den Weg, du und deine Begleitung. Als Ihr aufsteht und eure Jacken anzieht, bücke ich mich gerade zu meiner Handtasche und sehe ein kleines zerknülltes Stück Papier nur schräg durch meinen Blickwinkel fliegen. Ziemlich emotionslos entfalte ich es und frage mich, ob wir jetzt schon wie die Schulkinder Papierbällchen an den Kopf werfen? Aber nein. Es soll das entzückendste Brieflein sein, das ich bis dato erhalten habe. Ein Kompliment, eine selbstlose Aufmerksamkeit. Ich will dir noch schnell hinter her und alles revidieren: Den unsympathischen ersten Eindruck, das Scannerblickphänomen. Aber als ich die Restauranttür kurz nach dir aufschiebe, bist du bereits im Hamburger Nieselregen verschwunden.
Deshalb bleibt mir nur dies: Danke, liebe Unbekannte. Ich werde deinen Brief in meinem Portemonnaie mit mir herumtragen. Deine Glücklichkeitsnotiz. Um mich daran zu erinnern, dass erste Eindrücke eben nicht alles ausmachen und Komplimente noch viel schöner sind, wenn man sie unerwartet und selbstlos erhält.

Schön geschrieben, guter Stil! Freue mich schon auf mehr.
Was allerdings noch interessant zu wissen wäre: Basiert dieser Text auf einer realen Erfahrung oder ist er frei erfunden?
Beste Grüsse,
awilex
Hi Awilex,
vielen Dank für deinen lieben Kommentar!
Tatsächlich beruht der Text auf ein Erlebnis vor einigen Wochen. Auch die Glücksnotiz ist nicht selbst geschrieben 😉
Viele Grüße aus dem Norden,
gedankenstil.
Das hab ich ehrlich gesagt auch gehofft, denn es ist wie ein kleiner Lichtpunkt in der sonst eher dunklen und unfreundlichen (westlichen) Gesellschaft. Umso mehr freut es mich auch für dich, dass du das Ziel dieses Lichtpunktes warst oder auch immer noch bist.